Nach-Denken zu Erfurt

Wenn sie sich zeigen - die Katastrophen unseres Lebens - dann sind wir mit unserem Denken unter den Geschehnissen begraben, belastet unter ihnen, sind wir depressiv (von lateinisch: deprimere: niederdrücken, unterdrücken). Geht diese Zeit vorbei - dann können wir erst Nach-Denken üben. Heute versuche ich Nach-Denken über Erfurt. Erfurt ließ wieder Sätze wie den von Tante Ulrike hörbarwerden wie Ich sage es ja immer: So schlimm wie heute war's noch nie" (in der Schule). Jedoch: Eine erste Kriminalstatistik für das Königreich Hannover wurde Anfang des 18. Jahrhunderts begonnen (Morde, Raubüberfälle, Diebstähle) und es war wenig wahrscheinlich, dass unsere Vorfahren zweimal nacheinander in der öffentlichen Kutsche ganz ohne „Leib-Wächter“ heil von Celle nach Uelzen und weiter nach Lüneburg gelangten. Und die Schulwelt, die nach der Reformation auch auf unsere Dörfer zog, bedeutete vermutlich nicht weniger brutale Kloppereien und Randale von jedem gegen jeden als heute. (siehe Bild unten). Die Berichte der Pastoren, die bis ins letzte Jahrhundert die Schulaufsicht wahrnahmen (etliche Jahrgänge aus Suderburg besitze ich noch) sprechen eine ähnlich entsetzte Sprache wie die mancher Journalisten aus Erfurt. Onkel Wilhelm, der Mann von unserer Kassandra Tante Ulrike, murmelt dann meistens den Satz, dass sich die Menschen immer schon ähnelten. Darin und -darin auch. Im Göttingen der 50 er Jahre lauerte ein Freund, ein Jurastudent seinem früheren Lateinlehrer auf und erschoss ihn aus dem Hinterhalt - aus Rache für eine ungerechte Bewertung in Latein, die Jahre zurücklag. Das Drama war besonders öffentlich, weil es sich um den Neffen des Schriftstellers Hans Fallada (Rudolf Ditzen) und Sohn eines angesehenen Oberlandesgerichtsrats im Celle meiner Kindheit handelte. Nicht erst seit damals wissen wir, dass Schule ein gefährlicher Ort ist für Schüler gegenüber Übermacht-hungrigen Lehrern. Und für Lehrer und Lehrerinnen gegenüber zutiefst gekränkten Schülern, die ihre seelischen Kränkungen und daraus folgenden Krankheiten keineswegs erst in der Schule erleiden. Sie zeigen sich oft erst dort. Nichts kommt, aus dem heiterem Himmel“ unserer Ahnungslosigkeit. Die unruhigen Änderungen durch Studenten in den ,68ern" änderten daran nichts, dass der Mensch in jeder Gesellschaftsform unberechenbar bleibt. Bleibt zu bewundern, wenn heutzutage Lehrerinnen und Lehrer ihre Schule betreten mit der ehrlichen Absicht, neben Wissensvermittlung auch Partnerschaft zu bieten. Und dies umso tapferer tun - je gefährlicheres scheint, nicht ist. So wie es eine Freude ist, wenn ehemalige Schüler ihre Lehrer später in einer Weise grüßen, die das Verstehen und Annehmen von dieser Partnerschaft zeigt. Die Statistiker der Weltgesundheitsorganisation voraussagen, dass es ab 2010 so viel Essstörungen, Hauterkrankungen und narzisstische Persönlichkeitsstörungen geben wird, wie nie zuvor" Schule soll kränker machen denn je. Die Tanten Ulrikes sind eben überall-aber sie gestalten - Gott sei Dank - auch nicht die Schule.

28. Mai 2002